Wo ist Jesus?

Immer wieder einmal beschäftigt mich die Frage, wo und wie man Jesus heutzutage konkret "festmachen" kann. Wo ist er? In seinem Buch "Jesus in schlechter Gesellschaft" geht Adolf Holl auf unterschiedliche theologische Erkenntnisse ein und ergänzt diese durch soziologische Anmerkungen. Gegen Ende seines Buches wehrt Holl sich dagegen, Jesus festlegen zu wollen. Das streckenweise nüchtern geschriebene Buch endet nachdenklich, andachtlich und mit flammenden Worten zugleich. Ein Auszug.


Wo ist Jesus?
Teilt Jesus die Geduld derer, die den jüngsten Tag von oben und außen erwarten, weltflüchtig passiv? Oder ist er bei den aktiv Hoffenden, die etwas bewirken wollen hier und jetzt, eine landwirtschaftliche Genossenschaft oder den Sturz der Regierung?
Solidarisiert er sich mit Bauern oder Arbeitern, Farbigen oder Weißen, Kleinbürgern oder Intellektuellen oder sogenannten entwurzelten?
Schreit er mit beim Ruf nach dem Klassenkampf oder bemüht er sich um Ausgleich der sozialen Gegensätze?
Hält er es mit Black Panther oder General Franco, mit Ghandi und Martin Luther King oder dem Papst?
Zieht er die Atheisten den Frommen vor?
Handelt er überlegt oder unüberlegt, ist er ein Einzelgänger oder fühl er sich in Massen wohl?
Wo ist Jesus?
(…)
Jesus ist bei den Kindern, die von zu Hause fortlaufen.
Bei den Gefangenen und Verurteilten.
Immer bei den Armen, nie bei den Reichen.
Stets bei den Unzufriedenen, die Satten meidet er.
Nicht bei den Erhaltern des Bestehenden, denn die kommen ohne ihn zurecht.

Jesus nimmt Partei für die Ohnmächtigen.
Den Zornigen fühlt er sich verbunden.
Gründungsversammlungen besucht er nicht.
In Kirchen ist er selten zu sehen – dort wird er ohnedies verehrt.

Jesus ist unauffällig gekleidet, eine Uniform trägt er nie.
Er hält sich nirgends lange auf.

 

 

Vom heutigen Kirchen-Jesus muß man den Eindruck gewinnen, er hätte eine Weltanschauung gehabt. Derart, dass er auf jede Frage die richtige Antwort schon bereit gehabt hätte, seine lehren ein geordnetes System der Weltdeutung dargestellt hätten. Dass ein solches Jesusbild entstehen konnte, geht nicht ausschließlich auf das Konto des Pfäffischen in der offiziellen Jesusdeutung; sondern es schlägt dabei eben ein Ordnungssinn, Ortungssinn durch, Jesus wird topologisch verarbeitet, er bekommt seinen Platz zugewiesen, heißt Gottessohn, Religionsstifter, sitzt zur rechten Hand Gottes. Die Gewohnheiten der Völker haben es erreicht, dass man sich bei Jesus auskennt, er ist verläßlich geworden, hat Karriere gemacht, hat es zu etwas gebracht.

Hingegen ist der reale Jesu recht unverläßlich gewesen, ein Unmutserreger und Provokateur, Stein des Anstoßes und Skandalmacher. Er entwischt jeglichem Bestreben nach Positionsbestimmung, läßt sich nicht orten. Ist streng, wo man Milde erwartet hätte, nachgiebig dort, wo Entschiedenheit am Platz gewesen wäre. Betet im Tempel und fordert zu seiner Zerstörung auf, verärgert seine eigene Sippe und nimmt engste Verwandte in den Jüngerkreis auf. Und immer wieder die Frage:  Wer bist du? Wie können wir dich einordnen? Bist du der Messias? Bist du der Prophet? Wirst du das Reich Israel wieder herstellen? In welcher Vollmacht handelst du eigentlich?

Jesus entzieht sich alldem, weicht aus, schlägt dem Meldezettelwesen ein Schnippchen, lässt sich essen und trinken gut schmecken, wo er ein Asket sein sollte, lässt sich feiern und verteilt dennoch keine Waffen, spricht vom Weltuntergang und hat dabei ein Auge auf das Zunächstliegende.
Ohne sich dabei zum Clown zu stilisieren, er will nicht in die Zeitung kommen, sein beständiger Positionswechsel ist nicht Ziel seines Handelns, vielmehr wird da eine Absichtslosigkeit merklich, seine Ortlosigkeit entspringt keinem Programm, er will das Denken verändern, nicht aber in neue Bahnen lenken, wo es dann beruhigt dahinfahren kann.

Aus: Adolf Holl, Jesus in schlechter Gesellschaft, S.166, 171+172, Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart, 1971