Mein Erlebnis 2016: Die Begegnung in Pelzerhaken.

Das Jahr 2016 ist noch nicht einmal halb rum, ich glaube aber, dass „Mein Erlebnis 2016“ bereits stattgefunden hat.

Vor einem Jahr hat mich der Tod eines Kitesurfers, der vor Pelzerhaken/Ostsee am 15.April verunglückt war, sehr beschäftigt. Ich habe darüber bei ewigkite.de unter der Überschrift „Rest in peace, Kitekollege!“ ein paar Gedanken niedergeschrieben. Ein Jahr und einen Tag nach seinem Tod war ich selbst in Pelzerhaken surfen. Ich hatte dabei ein Erlebnis, das ich wohl nicht vergessen werde...

Am 16. April 2016 hatte ich zwei Termine. Den einen in Hamburg verließ ich etwas früher, um vor dem anderen Termin in Puttgarden auf Fehmarn noch eben etwas aufs Wasser gehen zu können. Ich hatte mal wieder Sehnsucht nach Wasser, Himmel, Surfen und Alleinsein. Pelzerhaken liegt auf dem Weg nach Fehmarn und ist tatsächlich einer meiner Lieblingsspots.

Ich kam an, packte einen 15er-Kite aus und genoss eine herrliche Stunde auf dem Wasser. Es waren nur ganz wenige Leute am Strand, zwei andere Kiter mit mir auf dem Wasser. Als der Wind nachließ verließen die anderen Kitesurfer das Revier. Ich holte einen 21er-Drachen aus dem Auto und freute mich auf eine weitere Session. Ich bin etwas sicherheitsfanatisch, was das Kiten angeht. Also holte ich  noch den Windmesser, um die Windgeschwindigkeit zu messen. 10-12 Knoten. Bestens für den 21er Kite. Die Wolken am Himmel oder sonstige Anzeichen gaben mir auch keinen Anlass zur Sorge.

Ich machte mich also wieder aufs Wasser und freute mich auf die zweite Stunde, die vor mir liegen sollte. Weit gefehlt. Nach ca. 200 Metern „schaltete sich der Wind an“. Ich weiß nicht, woher der Wind kam. Es war nicht abzusehen. Trotz aller Tricks, die ich kenne, hatte ich echte Mühe, den Drachen zu halten. Ganz langsam und übervorsichtig ließ ich mich Richtung Land ziehen. Kein Mensch am Strand, um beim Landen zu helfen. „Okay, ich habe ja die Sicherheitsleine!“ Ich löste den Drachen mittels des Sicherheitssystems aus. Die Sicherheitsleine würde dafür sorgen, dass der Drachen am Windfensterrand (wo ich ihn „geparkt“ hatte) runterkommen und nach etwas Flattern und Zuppeln dann irgendwann liegenbleiben würde. In dem Moment, in dem ich auslöste, erfasste eine Windböe den Drachen (ich war heilfroh, dass ich bereits ausgelöst hatte!), bewegte den Drachen nach oben, die Sicherheitsleine wurde gespannt...und riss (merke: Auch Sicherheitsleinen sollten hin und wieder ausgewechselt werden!).

Zum ersten Mal seit über einem Jahrzehnt bewegte sich ein Drachen ohne meine Zustimmung von mir weg. 21 Quadratmeter bei heftigem Wind bewegen sich auch auf der Ostsee schnell. Zu schnell. Ich bin an Land gerannt, am Strand entlang, fast bis zur Erschöpfung, dann rein in die Ostsee, dem Drachen hinterher. Keine Chance. Eine halbe Stunde lang habe ich es versucht. Schon nach 10 Minuten fing ich an, „Lösungen“ zu suchen: „Na ja, ich bin gesund!“, „Was sind schon 2.000 € Material?“,  „Ob die Haftpflicht zahlt?“, „Der Drachen gehört ewigkite. Jetzt muss ich zahlen.“

Nach einer halben Stunden, es wurde langsam etwas schummrig, gab ich auf. Ich machte mich, wirklich total (!) erschöpft, durch die hüfthohe Ostsee zurück an den menschenleeren Ostseestrand. Na ja, ein Mensch war da. Einer der Seniorenkitesurfer, die ich vor gut einem Jahr dort mal getroffen hatte. „Mensch, ist ja gut gegangen mit dir. Ich hab’ schon mal die Seenotrettung angerufen...“ Er reichte mir sein Handy. Was nun folgte war Norddeutschland pur. „Tach auch. Gehört Ihnen das Segel?“ „Ja.“ „Aber Sie sind an Land?“  „Äh, ja, sonst würde ich ja nicht mit ihnen telefonieren!“ „Sie hängen also nicht an diesem Drachen?“ „Nein.“ „Na dann lassen wir das Ding, wo es is’. Geben Sie mir trotzdem mal Ihre Telefonnummer...“ Ich gab ihm die Telefonnummer, der Drachen war mir mittlerweile tatsächlich egal, ich freute mich über mein Leben und meine Gesundheit. Und irgendwie freute ich mich auch über diese herrliche norddeutsche Szene: Strand, Wasser, Wind und ein „typisch norddeutscher“ Seenotretter am Telefon.

Der „Seniorkiter“ und ich gingen gemeinsam am Strand in Richtung Perlzerhaken zurück. Am leeren Strand kam uns eine Frau, etwa mein Alter, entgehen. Offensichtlich kannten der „Seniorkiter“ und die Frau sich.  „Wie geht es dir?“ fragte der „Seniorkiter“.

Die Frau antwortete, ihre Augen wurden leicht feucht und sie erzählte, dass gestern vor einem Jahr ihr Mann gestorben sei. Ich stand neben der Witwe des Kitesurfers, dessen Tod für mich ein Jahr zuvor Anlass gewesen war, selbst über Leben und Tod nachzudenken. Ich stand wie angewurzelt am Strand.

Und mir kamen die Tränen. Einfach so. Ich bin so einer. Zumindest, wenn ich so etwas erlebe. Das Schweigen, die Tränen, wurden nur mühsam durchbrochen. Ich habe ihr erzählt, dass ich über ihren Mann geschrieben habe. Das konnte sie nicht glauben.

Sie hat erzählt, ich habe nachgefragt. Ich weiß jetzt im Vergleich zur Zeit vor der Begegnung viel über meinen verstorbenen Kite-Kollegen. Und auch einiges über seine Witwe. Am Vormittag desselben Tages hatte ich eine gute Predigt meines Chefs gehört. Hängengeblieben war, dass der Gott in Jesus ganz menschlich geworden ist. Er kennt alle Höhen, aber eben auch die Tiefen. Ein bisschen davon habe ich am Strand erzählt. Und mir selbst ist wieder mal klar geworden, was für einen alltagstauglicher Glaube mir geschenkt wurde. Ich muss das Schwere, das Leid, ja selbst den Tod nicht ausblenden. Das Leid und auch die Trauer, sie sind schwer zu ertragen. Aber ich vertraue, dass ich nicht allein trage... Die Witwe und ich haben uns zum Schluss in  den Armen gelegen. Ich habe mir ihre E-Mailadresse gemerkt.

Auf dem Weg zum Auto dachte ich tatsächlich: „Ach, diese Begegnung war wirklich 2.000 € wert!“. Ich schmunzelte, dachte auch „Jepp, dann muss jetzt wohl ein nagelneuer 21er her!“, war dankbar für meine Gesundheit, für die Begegnung, für das Leben!

Am Auto angekommen, schickte ich der Witwe gleich eine E-Mail mit Grüßen und dem Link zur Andacht über ihren Mann.

Kurz danach klingelte das Telefon. „Hier ist die Seenotrettung (Norddeutschster Akzent!).“ „Ja?“ „Und Sie hängen da echt nicht an dem Drachen dran?“ „Nein, ich telefoniere mit Ihnen ...“ „Na, dann is’ ja gut. Hier rufen ständig Leute an. Die denken, da hängt ein Toter dran. Das nervt. Wir müssen jetzt raus und das Teil reinholen.“

Am nächsten Morgen, ein Sonntagmorgen, hatte ich vor dem Gottesdienst eine echt nette E-Mail aus Pelzerhaken auf meinem Rechner. Beschwingt wie selten habe ich Gottesdienst gefeiert und die Predigt gehalten. Nachmittags bin ich dann noch in Grömitz vorbeifahren. Da lag der 21-Drachen mit einem kleinen Riss neben dem Seenotretter auf dem Anleger. Ein dickes Trinkgeld habe ich der Seenotrettung wirklich gerne gegeben. Ein wirklich sehr sehr dickes Dankeschön für dieses bewahrte, intensive, lehrreiche und tiefgreifende Erlebnis habe ich meinem Gott natürlich auch schon gesagt. Und ich habe versucht, den Dank auch in sichtbare Tat umzusetzen.

Ich weiß nicht, in wieweit ich das ganze Erlebte direkt dem Wirken Gottes zuschreiben soll oder kann. Aber eigentlich ist es doch auch egal, ob Gott konkret eingegriffen hat oder ob das alles Zufall war. Das Ergebnis war für mich ein wunderschönes und berührendes Erlebnis.

Ich hoffe ja mal, dass wir per E-Mal weiter in Kontakt bleiben und uns ggf. mal wieder am Strand treffen. Den Plan haben wir zumindest.
Ach ja, noch etwas: Ich habe die Trauernde gefragt, ob ich über diese Begegnung schreiben darf. Darf ich.  ;-)