Pastor persönlich - Juni 2018 II

ppersoenlich

Die ersten beiden Abende dieser Woche hatten es in sich.




Bildschirmfoto 2018 06 27 um 08.55.14Am Montagabend war ich in einer Gemeinde zu Gast, die seit mehreren Jahren um’s Überleben kämpft. Junge Leute ziehen weg, es kommen keine neuen Leute dazu, die Gemeindemitglieder sind 60plus. So gut es geht, haben die Verantwortlichen in den vergangenen Jahren die Arbeit aufrechterhalten, sie haben nach neuen Formen, Konzepten, Ideen für die Gemeindearbeit gesucht. Sie haben wirklich ihr Bestes gegeben, es ruckelt sich aber einfach nichts.

Auch die Fusion mit anderen, auch anderskonfessionellen Gemeinden ist gescheitert. Da saßen wir nun in einem wirklich feinen, fast abbezahlten Gemeindehaus, das viele tolle Möglichkeiten bietet. Die Gemeinde vor Ort beschloss an diesem Abend, zum 31.12.2018 die Gemeinde zu schließen. Als es ausgesprochen wurde, musste ich schlucken. Theoretisch habe ich so etwas schon einmal durchdacht. Ich habe dafür sogar ein Papier geschrieben und am Schreibtisch durchdacht, was in einem solchen Fall zu tun ist. Das war Theorie. Hier saßen nun Leute am Tisch, die sich über Jahrzehnte für die Gemeindearbeit vor Ort engagiert haben. Es muss für sie schlimm sein. Vielleicht so, wie wenn alte Menschen aus ihrem selbstaufgebauten Eigenheim in ein Pflegeheim ziehen müssen. Oder wie wenn eine innig gestaltete Freundschaft durch Streit oder durch Tod ein jähes Ende findet. Sicher war das absehbar, was geschehen wird. Aber es bestand doch immer die Hoffnung, dass es abwendbar wäre. 

An dem Abend habe ich versucht, tröstend, helfend, begleitend zu reden. Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist. Meine große Hoffnung wären junge Leute gewesen, die eine neue Gemeinde gründen wollen. Die freie Hand bekommen. Die Gemeindeglieder hätten wirklich (fast) Alles zugelassen. Wo sind die kreativen, anpackenden, leidenschaftlichen Leute, die Gemeinde/ Kirche neu gestalten? Dass es dabei nicht um ein bisschen Makulatur geht, das ist schon klar. Es geht nicht um Gottesdienstformen, ein bisschen mehr oder weniger Orgelmusik oder Lobpreis. Gemeinde/ Kirche muss neu gedacht, gelebt werden.
Am 31.12. ist an dem Ort, an dem ich am Montag war, Schluß.

Ich mache mir bewusst, dass Gemeinde/ Kirche nicht mit dem Reich Gottes deckungsgleich ist. Ich weiß nicht, ob das für mich oder für die Gemeindeglieder vor Ort ein Trost ist. Wenn wir beten „Dein Reich komme“ und „Dein ist das Reich“, dann verwechseln wir – vielleicht  vornehmlich evangelikal geprägte Kreise? – dieses Reich Gottes nicht selten mit der real existierenden Gemeinde vor Ort. Jedoch: Aus dem Wohl- oder Weheergehen einer Gemeinde vor Ort lassen sich keine Rückschlüsse auf das Reich Gottes ziehen. Natürlich ist es traurig, ja, es tut sogar weh, macht Sorgen – und man muss auch aufpassen, dass man sich keine Vorwürfe macht (‚wir waren nicht aktiv, fromm, geistlich oder sonstwas genug!’) – wenn eine Gemeinde ihre Geschichte beenden muss.

Das Reich Gottes besteht und geht aber weiter. Es ist dort zu finden, wo die einzelnen wenigen und auch alten Mitglieder der Gemeinde, die sich jetzt neue Gemeinden im Umfeld suchen werden – leben. Sie werden an der Stelle, wo sie im Alltag sind, ‚Licht der Welt’ sein, Zeichen des Reiches Gottes aufrichten, ihren Gottesdienst mitten im Alltag feiern. Ja, und das Reich Gottes ist auch dort zu finden, wo keine Christen sind. Das Gute und Lebensfördernde, das Hilfreiche und Schöne, das an vielen Stellen wächst und gedeiht, sehe ich gerne als zeichenhaften Anbruch des Reiches Gottes. 
So gut ich kann werde ich der kleinen Gemeinde, die bis zum Jahreswechseln bestehen wird, zur Seite stehen. Trösten. Mut machen. Für ein Leben im Alltag.

Bildschirmfoto 2018 06 27 um 08.55.49Dienstagabend war ich zu Gast in einer ‚blühenden’ Gemeinde. Läuft. Ich tippe mal, dass da 200 bis 300 Leute im Gottesdienst sind. Viele Aktivitäten, rundes Gemeindeleben, zwei Hauptamtliche. Die Teenys und Jugendlichen hatten mich eingeladen, um einen Abend zum Thema ‚Evangelisation’ zu machen. Mache ich doch gerne (es ruft ja auch Erinnerungen an meine GJW-Jugendpastorenzeit wach). Ich beginne also den Abend und merke schon beim Bibelaufschlagen, dass ich die vergangenen 12 Jahre eben nicht in der Jugendarbeit aktiv war. Das heißt jetzt nicht mehr Bibelaufschlagen, sondern Bibelscrollen.

Die Teenys waren mit ihren Daumen und Handys schneller bei der gewünschten Bibelstelle als ich mit meinen Fingern und meiner analogen Bibel (und ich weiß, wo die Apostelgeschichte in meiner Bibel zu finden ist!). Irgendwann unterbrach ich meine Ausführungen. Die Jugendlichen sollten aus einem Dutzend großformatiger Bilder das Bild aussuchen und mit anderen daüber ins Gespräch kommen, das sie am ehesten mit dem Thema verbinden. Kreuzesbilder, Bilder von Menschen, predigende Leute, Bilder von Obdachlosen und viele andere Bilder waren dabei. Die Jugendlichen suchten sich ihre Bilder aus und unterhielten sich.

Dann erzählten sie der gesamten Gruppe, warum sie sich gerade für ihr Bild entschieden hatten. Ein Junge hatte sich ein Bild genommen. „Ich habe es genommen, weil es eine alte Muslima mit Kopftuch zeigt. Gott liebt ja jeden Menschen!“ Mir fiel die Kinnlade runter, das Hirn auseinander, meine Gesichtszüge entgleiteten, ich stöhnte innerlich auf (ich weiß, dass das Alles sehr unprofessionell ist!). Es war ein Bild von Mutter Teresa. 

Seit 12 Jahren bin ich nicht mehr in der Jugendarbeit tätig. Oder sind es 120 Jahre? Ich habe kurz etwas zu meiner (unangemessenen Reaktion) gesagt. Nach dem Abend haben wir uns mit ein paar Leuten kurz über die veränderte gesellschaftliche (und auch christliche Gemeindesituation) unterhalten. Und ich muss lernen. Ich bin wohl in den letzten 12 Jahren mehr als 12 Jahre gealtert. Es ist komplett okay, wenn junge Leute nicht mehr das und die kennen, die ich kenne oder als junger Mensch kannte. Die Situation, das Leben, das Christsein hat sich komplett geändert. Das wurde mir bewusst.

Und dass ich komplett zu einer anderen Generation gehöre. Ich muss zu verstehen lernen, dass Jugendliche aus vollem Hals stundenlang Lobpreislieder singen, dass sie ihren Glauben anders leben, gestalten und zum Ausdruck bringen als ich, … und dass sie ihre Vorbilder für den Glauben nicht in der Geschichte der christlichen Kirche, sondern in der Gegenwart der Megakongresse und christlichen Highlight-events finden. Das fällt mir nicht leicht. 
Aber wer bin ich, dass ich mich und meine Generation, meine Erfahrungen und Prägungen zum Maßstab mache. Sie leben ihren Glauben. Anders. Aber sicher nicht schlechter oder besser als ich. Muss man das überhaupt bewerten? Geht es um schlechter oder besser in Glaubensfragen? 
Dankbar für die engagierten Jugendlichen (ich habe übrigens die und den Jugendlichen um Erlaubnis gebeten, ob ich dieses Erlebnis bveröffentlichen darf) und auch mit vielen Fragen bin ich gestern Abend nach Hause gefahren.

Das Reich Gottes kommt. Ich bete darum. Und es ist ja schon da. 

Junge mit den Alten sollen loben den Namen des Herrn!