Pastor persönlich - September 2021

PastorpersoenlichEin illegales Autorennen rund um ‚meine‘ Kirche. Mitten in Hamburg-Altona.

Ich schaue aus meinem Bürofenster und denke, dass das einfach nicht wahr sein kann. Lauter tiefergelegte und röhrende PS-Pakete rasen um die Kirche. Ich habe es erst gar nicht bemerkt, aber ein Anruf eines Mitarbeiters aus der Gemeinde hat mich aus meinem sonntagnachmittäglichen Dämmerzustand geholt. „Carsten, du musst dringend Bescheid sagen, dass das so nicht geht!“ Die Amazing Grace Baptist Church ist eine sehr dynamische Gemeinde, die in unseren Räumen zu Gast ist. Aber was zu weit geht, das geht zu weit. Die Nachbar:innen werden das am Sonntagnachmittag nicht so klasse finden.

Ich schrecke auf und liege in meinem eigenen Auto. Vielmehr in unserem Kastenwagenwohnmobil irgendwo in Mittelfrankreich. Den oben geschilderten Traum hatte ich ca. nach einer Woche Urlaub. Mitten in der Nacht bin ich lachend aufgewacht, bin aufgestanden und habe mir Traumnotizen gemacht. Danach konnte ich, wie alle weiteren Nächte während des Urlaubs auch, ganz entspannt weiterschlafen.
Ich hatte einen traumhaften Sommerurlaub mit meinem Lieblingsmenschen. Wir waren drei Wochen gemeinsam in Frankreich unterwegs. Nach einer Woche konnte ich dann auch bestens abschalten. 
Nach gut anderthalb Jahren Gemeindepastorsein merke ich, dass das Abschalten nicht ganz so einfach ist wie bei meiner vorherigen Arbeitsstelle. Dort hatte ich immer irgendwelche Projekte, die ich anpackte, durchzog und dann war auch gut. Gemeinden erlebte ich höchsten eine Woche lang am Stück. Und dann war ich wieder weg.

Jetzt begegne und begleite ich Menschen und Situationen über einen langen Zeitraum. Das macht etwas mit Gedanken, Gefühlen und eben auch mit meinen Träumen.
Ja, ich muss sogar sagen, dass das Arbeiten vor Ort insgesamt anstrengender ist. 
Ich hatte vor HH-Altona ziemlich gut gelernt, abzuschalten. Die Arbeit hat mir das erleichtert. Jetzt muss ich diesbzgl. ein wenig nachrüsten. Meine charakterliche Veranlagung, immer gleich mehrere Töpfe auf dem Herd haben zu wollen und mich dabei sogar wohlzufühlen – oder es geradezu zu brauchen, dass es so ist -, die habe ich auch in Altona nicht abgelegt (selbst wenn ich wollte, könnte ich das wahrscheinlich auch nur ganz schlecht).
Die Gemeindearbeit ist herausfordernd. Kurz gesagt: Corona, Unterjüngung, dünne Mitarbeiterdecke und ‚wer will schon in einer Großstadt in die Kirche gehen?‘.
Die Arbeit im Ökumenischen Forum Hafencity ist herausfordernd. Kurz gesagt: Corona, inhaltliche Neujustiering, zwei Zielgruppen, die neu anzusprechen sind.  Und 'Wer will schon in der hafencity in die Kirche gehen?'
Die Nachbarschaft ist herausfordernd. Kurz gesagt: Eine Bürgerinitiative aufgrund der vielen drogenkonsumierenden und wohnungslosen Menschen rund um die Kirche. Die Kirche übernimmt die Moderation. Jesus hat sich ja mit allen an einen Tisch gesetzt. Das versuchen wir auch. Das ist schon nicht einfach …. . Und: 'Will irgend jemand von den Nachbar:innen oder von den Drogenkonsumierenden oder Wohnungslosen in die Kirche gehen?'
Die Afghanische Gemeinschaft in der Christuskirche ist herausfordernd. Kurz gesagt: Enorme personelle und inhaltliche Veränderungen müssen anstehen. Und ich habe versucht, sie einzuleiten.  Das war … nicht einfach. Es sieht aber ganz verheißungsvoll aus. Nicht nur, aber auch, weil die Afghanen in die Kirche gehen wollen.

Na ja, und dann sind da noch ein paar andere Baustellen. Und ich habe ständig den Eindruck, dass ich den Leuten, mit denen ich zu tun habe, nicht gerecht werde. Und ich kann das ja auch gar nicht. Da sind so viele einzelne Gespräche, Begleitungen, Krankenbesuche, …. Ich bleibe immer hinter dem zurück, was ich eigentlich möchte. Und deswegen ist es wohl so, dass ich, wenn ich auf der Kanzel stehe (wobei ich coronabedingt in Altona hinter einem Stehpult stehe), immer auch zuerst mir selbst predige. 

Kleiner Ausschnitt aus der Predigt von vorgestern:
„Wir möchten als einzelne Christinnen oder Christen, ja am liebsten auch als ganze Gemeinde erleben, dass wir wirklich etwas bewegen und wir, wir wollen diese Glaubenskraft haben und dann wird es schon werden. 
Liebe Gemeinde, ich selbst kenne das nur zu gut von mir selbst. Und ich kenne es auch in Bezug auf unsere Gemeinde. Dieser Wunsch, dass ich, dass wir, durch unseren Glauben so richtig etwas bewegen können. Stärke unseren Glauben! (…)
Es ist, als ob Jesus sagt: Bittet nicht ‚Herr stärke unseren Glauben‘!
Sondern bittet: Herr schenke mir Glauben, Gottvertrauen. 
Dass ich Gott vertraue, dass ihm nichts aus der Hand gleitet. 
Dass sein Reich kommt.
Und bewahre mich davor über meine Glaubenskraft nachzudenken. Aber hilf mir und stärke meine menschlichen Kräfte, meine Menschenkraft, damit ich mit aller meiner Kraft das tue, was du möchtest.“

Mit den ‚menschlichen Kräften‘ sieht es bei mir momentan ganz okay aus. Auch wenn ich merke, dass ich keine 25 mehr bin ;). Es ist, wie es ist und gestern hat mir ein Musiker, den wir in den Gottesdienst eingeladen hatten, zugesungen ‚Die beste Zeit ist immer jetzt‘. 
Das nehme ich gerne mal so an.

Meine Güte, wie die Zeit vergeht. Und wieviel beste Zeiten ich in den vergangenen Monaten erlebt habe … . Gerade habe ich mal nachgeschaut, wann ich das letzte Mal ‚Pastor persönlich‘ geschrieben habe. Im Februar dieses Jahres. Eigentlich wollte ich das seitdem regelmäßiger machen. Irgendwie ist es aber wieder weggerutscht. Weil ich heute einen Bericht für die Homepage geschrieben habe, setze ich mich jetzt auch mal wieder hin, um an dieser Stelle zu schreiben. Mal schauen, wann es dann das nächste Mal sein wird.Es ist ja schon irre, wie Blogeinträge und auch Videos rein quantitativ seit Corona zugenommen haben. Und jede Menge Podcasts. Ich selber war in den vergangenen Wochen auch an einigen Podcasts und Videodrehs beteiligt. Ich frage mich, wer eigentlich die Zeit hat, das Ganze zu lesen, zu hören oder sich anzuschauen. Ich zumindest bin nach wie vor müde, stundenlang auf den Bildschirm zu schauen. Einen 60-minütigen Podcast, an dem ich beteiligt war, habe ich mir letztes Wochenende bei einer Autofahrt angehört. Sonst würde ich das niemals mache … . Na ja, und so interessant und knackig fand ich mich nun auch nicht, dass ich mir das ohne Anlass angehört hätte.
Bin gespannt, wie viele Leute diese Zeilen bis zum Ende lesen ;).
Alles okay, wenn es wenige sind. Allen wünsche ich heute noch eine gute Zeit. Die Beste!