Rest in peace, Kite-College

 
Ich kannte den Verstorbenen nicht persönlich ... .

Zumindest nicht näher. Vielleicht habe ich einmal kurz am Strand von Pelzerhaken mit ihm gesprochen. Denn manchmal  quatschen und fachsimpeln wir Kiter mit Gleichgesinnten einfach so am Strand.

 Mit 52 Jahren ist in der vergangenen Woche ein Kitesurfer gestorben, nachdem er auf der Ostsee vor Pelzerhaken verunglückt war.

Ich bin mit meinen 50 Jahren fast genau in seinem Alter ... .

 Seit vergangenem Donnerstag gehen meine Gedanken regelmäßig an seine Familie, seine Freunde, seine engsten Mitmenschen. Der liebste Mensch, einer der liebsten Menschen, ein Vertrauter, einer, der einfach dazu gehört, wurde nicht nur aus seinem eigenen Leben gerissen. Er wurde auch aus ihrem Leben gerissen.

 Mir ging die Pressemitteilung sehr nah. Weil mir die Umstände so nah sind: Das Alter, die Leidenschaft fürs Kitesurfen und auch in Pelzerhaken war ich wohl schon mehr als ein Dutzend Mal auf dem Wasser.

 Gestern und vorgestern habe ich versucht zu recherchieren, was genau der Grund für den Unfall war. Es ist nichts herauszufinden. Und, meine Güte, es ist doch auch egal! Es bringt ihn nicht zurück!

Wenn, dann könnte es höchstens mir einen weiteren Hinweis darauf geben, wie ich mein Leben besser schützen kann. Aber das ist nicht das Thema! Das ist nicht das Thema der Trauernden von Pelzerhaken.

 Zu wissen, was schief gegangen ist, trocknet nicht die Tränen der Trauernden, bringt den geliebten Menschen, womöglich den Ehemann und Vater, nicht zurück.

Das Leid, die Trauer, die Schmerzen werden nicht gelindert durch sachliche Detailfragen zu Fragen der Kite-Sicherheit. Wenn überhaupt, dann werden sie gelindert, getragen, getröstet durch die Liebe anderer Menschen.  Immer wissend und empfindend: Die Liebe des einen verstorbenen Menschen fehlt schmerzlich.

 Meine Gedanken und auch meine Gebete gehen zu den Angehörigen. Ich weiß nicht, wer sie sind, aber ich hoffe und bete, dass sie Menschen um sich haben, die ihnen treu zur Seite stehen, die ihre Tränen trocknen und sie dann im erneuten Weinen nicht allein lassen, die den nagenden Fragen nach Leben und Sinn, nach dem Warum und der Zukunft nicht ausweichen, sondern tastend nach Antworten ringen und auch offen bleibende Fragen mittragen.

 Und: Machen wir als Kitesurfer dem Verstorbenen keine „Vorwürfe“. Wir wissen nicht – zumindest ist es nicht öffentlich – woran es lag. Und selbst wenn wir es wüssten, ja meinen wir denn, dass der Kite-Kollege absichtlich ins Unglück gekitet ist? Jeder Kiter will doch noch seine nächste Session erleben. Jeder Kiter hat doch so große Freude am Sport, dass er auf sich aufpasst, dass er zwar vielleicht an die Grenze geht, aber doch nicht an die Grenze zwischen Leben und Tod! Wem ein  „selber Schuld“ in die Gedanken oder über die Lippen kommt, der oder die mache sich bewusst, was er oder sie damit sagt und dem Kite-Kollegen insgeheim unterstellt.

 Und bewahren wir uns vor dem Gedanken, dass uns so etwas nicht passieren könnte.

Mir kann so etwas passieren. Ich beachte alle mir bekannten Sicherheitsregeln, ich habe ein Messer im Trapez, trage immer eine Prallschutzweste und einen Helm, habe ein Rescue-Package dabei und meine Kites haben ein hervorragendes Sicherheitssysstem. 

Gegen Leinen um den Hals, Kiteboard an den Hals, Wasserschwall in den Hals mit anschließendem Verschlucken, Husten, Luftwegbleiben etc. oder gegen einen Schwächeanfall, Herzinfarkt, Krampf oder sonst was Lebenslähmendes auf dem Wasser kann ich keine Versicherung abschließen. Wie gesagt, ich tue mein Bestes, um Unglücke zu vermeiden.

Aber ich weiß auch, dass ich nicht der Erhalter meines Lebens bin.

Und das betrifft doch nicht nur meinen Sport. Eine Garantie fürs Überleben habe ich nicht.

Mir zumindest ist klar – und das hat nicht nur mit meinem 50.Geburtstag, den ich vor einem halben Jahr gefeiert habe zu tun - , dass ich nicht ewig leben werde. Und vielleicht betrifft mich die Nachricht von der Ostsee auch deswegen so sehr, weil mich dieses Wissen eben nicht unberührt lässt.

Natürlich würde ich mich sehr freuen, wenn es mir so ginge, wie der rüstigen Rentnergruppe, alle offensichtlich um die 70 Jahre oder auch älter, die ich im vergangen Jahr am Strand von Pelzerhaken getroffen habe: Da saßen die drahtigen und rüstigen Rentner in ihren Neoprenanzügen, machten ein Päuschen und meinten dann: „So, junger Mann, jetzt machen wir wieder unsere Kites fertig und drehen ein paar Runden auf dem Wasser!“

Ja, Kitesurfen ist der Traum! Und manches Andere im Leben auch. Das Leben ist so schön!

In diesen Tagen denke ich auch an ein Wort aus der Mitte der Bibel. In Psalm 90 steht: „Herr, lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden.“ Soweit ich weiß ist im sogenannten „Alten Testament“ mit Klugsein so etwas wie „Lebensweisheit“, die dafür sorgt, dass man das Leben sinnvoll und erfüllt lebt, gemeint.

Und was ist der Sinn des Lebens? Wie lebe ich „erfüllt“? Für mich persönlich habe ich eine Antwort auf diese Frage gefunden, auch wenn damit noch lange nicht alle Fragen beantwortet sind. Und ja, meine Antwort ist brüchig. Ich formuliere sie zaghaft und tastend.

Und manchmal – so wie jetzt – voller Trauer über brutale Umstände des Lebens.

Rest in peace, Kite-Kollege!