Da wird dein Herz sein

Auszug aus Bibelarbeit von Prof. Kim Strübind/ Oldenburg

zu 5.Mose 30, 6-20

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Punkt 4 der Bibelarbeit: „Nahe deinem Herzen“

 

Für ein gelingendes Leben sollen wir bei der Tora „beherzt“ zugreifen, sagt unser Bibelwort. Allein sechsmal appelliert unser Bibelwort an das „Herz“ des Menschen als wäre es die zentrale Schaltstelle für das gelingende Leben. Das Herz ist in der Bibel nicht der Sitz unserer Gefühle, ebenso wenig wie die Tora nur der gefühlte Gotteswille ist. „Gott mit ganzem Herzen zu lieben“ heißt im 5. Buche eben nicht, in mystische Verzückung vor ihm zu geraten. Solche Zudringlichkeiten passen schlecht zu einem Gott, der sich in seiner Jenseitigkeit menschlichen Zugriffen entzieht. Emotionale Klimmzüge sind gewiss nicht verboten, aber sie finden – biblisch gesprochen – nicht im Herzen statt, sondern werden anderen Organen des Menschen zugeschrieben, etwa den Nieren oder der Leber.

 

Das Herz ist dagegen in der Bibel der Ort des Verstandes und des Willens, während die Funktion des Gehirns den Menschen im Alten Testament noch unbekannt war. Das schlagende Herz galt als der Ort, an dem der Mensch Pläne schmiedet und an dem sich sein Wille bildet. Das Herz ist zugleich so etwas wie das innere Parlament des Menschen, in dem widerstreitende Gedanken und Absichten aufeinander treffen und um die Gunst einer Entscheidung ringen. Ein „herzloser Mensch“ ist im Alten Testament also kein gefühlloser Klotz, sondern ein Dummkopf. Einer, der aus Argumenten und Einsichten keine naheliegenden Schlüsse zu ziehen vermag.

 

Gott mit ganzem Herzen zu lieben, heißt daher, ihn mit dem ganzen Verstand zu lieben, und darum auch: Gott immer wieder neu denken zu lernen! Gott will geliebt und das bedacht werden. Der Takt, in dem ein Herz für Gott schlägt, ist also eine eher nüchterne Angelegenheit, und bedeutet nicht, dass die religiöse Batterie immer auch Hochtouren fahren muss. Es sucht die nüchterne Abwägung und die Beschäftigung mit seiner Tora. So sieht schriftgelehrter Glaube aus, und so hat er sich in den theologischen Diskursen des Judentums und in der christlichen Theologie beheimatet. Das Herz macht den Theologen!, sagte der durch die Erweckung geprägte Kirchenhistoriker August Neander im 19. Jahrhundert.

(...)

 

Was evangelische Predigten betrifft, so stoße ich immer häufiger auf eine Flucht in wolkige Metaphern und eine narrative Naivität, die mir Sorge macht. Die Hörerinnen und Hörer sollen wieder einmal irgendwo „abgeholt“ werden und dürfen kognitiv bloß nicht überfordert werden. Mit Ersteren bin einverstanden, Letzteres macht mir Sorge. In der Bibel schlägt das Herz für die Vernunft, nicht für blumige und wolkige Sprachwelten oder undeutliche Redensarten.

 

Unser Bibeltext plädiert für ausnahmslose Klarheit in der religiösen Sache. Und wenn der Glaube eine Sache des Herzens und des Mundes ist, wie es hier steht, dann muss sich das Denken des Glaubens in seinem Reden niederschlagen. Der Glaube des Herzens ist der gedachte Glaube. Der gefühlte Glaube mag dies bedauern. Aber ohne das ernsthafte Denken wird auch eine Predigt steril. Ein bisschen weniger Bauch und dafür mehr kognitive Tiefe und geistige Schärfe – das ist es, was Predigten guttut.

 

Das Stochern in der Küchenpsychologie, wie sich Mose, die Apostel oder die Jünger bei der einen oder anderen Sache wohl gefühlt haben mögen, geht dagegen an den theologisch verdichteten Texten der Bibel vorbei. Eine literarische Figur kann man nicht auf ihre Gefühle befragen, sondern nur auf das, was durch sie zur Sprache kommen und damit zu Herzen gehen soll. Ich wünsche allen Predigenden mehr Mut, ihren Predigthörerinnen und –hörern  die Theologie und die Hintergründe der Bibeltexte zuzutrauen! *** Der Glaube hat sich in der öffentlichen Verantwortung vernünftig und intellektuell redlich zu äußern. Denn Kopf und Herz sind keine Feinde, sondern Verbündete. Und Denken des Glaubens, das Stellen von Fragen und die Inspizierung möglicher Antworten ist ausgesprochen sexy!

 

Ein nachdenkliches Herz, das Adonaj gefällt, lässt sich darum auch „verpflichten“, wie es in V. 11 und V. 16 heißt. Eben weil es auf die Vernunft hin ansprechbar ist. „Denn dieses Gebot, auf das ich dich heute verpflichte, ist nicht höher als deine Vernunft und nicht weit weg (von dir)“ (V. 11). Biblischer Glaube fürchtet nicht die Vernunft, sondern die Unvernunft, biblisch gesprochen: ein Zu-Wenig des Herzens. Den Glauben zu denken, das ist wahrhaft „beherzter“ Glaube! Herzlos ist es dagegen, Religion nur nachzuplappern, statt ihr nachzudenken. Die Religion, zu der das 5. Buch Mose einlädt, ist kein Opium für das Volk, sondern Adrenalin für das, „was uns unbedingt angeht“ (Paul Tillich) und was darum auch in seiner ganzen Tiefe gedacht und bedacht werden muss.

 

Und darum sollten wir uns als Menschen des Glaubens auch nicht den „neuen Atheismus“, sondern vor der neuen religiösen Gedankenlosigkeit fürchten! Eine Religiosität, die die Vernunft vor den Kirchentüren an den Nagel hängt und sich in eine plüschige Irrationalität flüchtet, hat mit der Herzensreligion unseres Textes nicht viel zu tun. Und die Gemeinde darf auch nicht sprechen: „Der Glaube, das ist mir zu hoch, das ist zu weit weg“. Unser Bibelwort sagt (so heißt es wörtlich), dass er „nicht höher als deine Vernunft ist“, und das heißt auch: er ist nicht in unerreichbaren Himmeln oder am Ende der Welt, jenseits des Meeres. Er ist dir nahe! Und das meint auch: Wovon die Religion spricht, darüber lässt sich reden und vor allem nachdenken. Mag ja sein, dass der eine oder die andere sich dabei gegen die Religion entscheidet. Aber es sollte einem dann wenigstens sehr bewusst sein, warum. Es gibt Vorbehalte gegen Religion und Kirche, die sind einfach auf so herzlose Weise undurchdacht. Wenn schon der Religion den Rücken kehren, dann nicht auf dem Hintergrund von Ressentiments, Vorurteilen oder nur gefühlter Wahrheiten.

 

Denn es geht um das Leben! Der Glaube will, wie es hier heißt, dem Leben dienen. Darum geht es – um nicht mehr und nicht weniger! Glaube ist an seinem „Segen“, also am gelingenden Leben interessiert. „Adonaj ist dein Leben“ (V. 20).Die „Beschneidung des  Herzens“ (V. 6) wird in der Kichentagsübersetzung mit dem „Einsenken des Bundeszeichen in dein Herz“ übersetzt. Die Beschneidung als Zeichen der Zugehörigkeit zum Gottesvolk soll verinnerlicht, der Bund mit Adonaj soll eine Sache der Vernunft und des Willens und damit des ganzen Menschen sein. Sie ist mehr als ein äußerlicher Ritus, sie ist die Aufforderung, sich die Einzigartigkeit Adonajs zu Herzen zu nehmen, sie in all ihren Facetten zu bedenken und dann auch zu leben.


Gottes Wille liegt mit der Tora auf dem Tisch derer, die sie bedenken sollen. Und sie ist andererseits auch nicht nur intellektuelles Spiel. Im Buch des Propheten Micha wird dies auf die bekannte Formel gebracht: Er ist uns Menschen gesagt, was gut ist, und was Gott von uns erwartet: „Nichts anderes, als Recht zu üben, Güte zu lieben und in Einsicht mit deinem Gott zu gehen“ (Mi 6,8). Das Herz, also die religiöse Vernunft, die sich an Adonaj bindet, drängt zur Tat und findet in ihr sein Ziel. Die Tora beschreibt den Willen Gottes in den Kategorien des sozialen Alltags und der Fürsorge für unsere Welt durch eine Selbstverpflichtung: Der Gottesdienst ehrt Gott im Alltag der Welt und ist immer auch Dienst am Nächsten, ist Fürsorge für die Armen, die im 5. Buch Mose einen herausragenden Platz einnimmt.

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