Die Sache mit der Sünde

 

Die Sache mit der Sünde.
Ein Gespräch mit Carsten Hokema und Jörg Swoboda
(Das folgende Gespräch wurde in der Zeitschrift "Die Gemeinde" - DG - im Juni 2012 veröffentlicht.)


DG: Was ist denn eigentlich Sünde?

JS: Sünde ist eine Haltung Gott gegenüber, die sich im konkreten Verhalten äußert. Und im Widerspruch zu Gottes Willen steht. Wir stemmen uns mit unserem eigenen Willen gegen Gottes Willen. Das wir Sünder sind, äußert sich darin, dass wir Sünde tun.

CH: Nicht in der Gemeinschaft mit Gott leben, ob gewollt oder ungewollt. Ich befürchte, dass die meisten Menschen ungewollt nicht in der Gemeinschaft mit Gott leben. Dass sie überhaupt keine Ahnung davon haben, dass Gott Gemeinschaft mit ihnen möchte. Deswegen leben sie von Gott getrennt. Jörg, du hast das gerade so aktiv formuliert – ich befürchte, die meisten wollen das gar nicht oder denken nicht darüber nach, dass sie so leben wie sie leben.


DG: Was ist eigentlich das Problem mit der Sünde?

JS: Das erleben wir täglich. Sünde hat unglaubliches zerstörerisches Potenzial. Sie schränkt das Leben, das Gott uns geschenkt hat, ein und zerstört es. Die Welt steht in Flammen, es toben zur Zeit 35 Kriege und noch viel mehr Kriege im familiären und beruflichen Bereich. Beratungsstellen können gar nicht so viele Termine vergeben, wie Leute um Gespräche bitten. Das zeigt, dass wir in einer Dauerkrise des Menschen leben. Jede Nachrichtensendung beweist, was das Problem mit der Sünde ist.

 

CH: Ich stimme dem zu. Aber wir sitzen hier in einem Cafe, ich sehe eine wunderbare Natur, draußen scheint die Sonne. Das ist Grund zur Dankbarkeit. Es gibt viele Menschen, die sich heute an einem freien Tag investieren für andere Menschen. Es gibt viele funktionierende Familien. Ich lebe als Christ in einer Welt, in der ich klar die Anzeichen des Verfalls sehe. Gleichzeitig sehe ich auch das Wirken Gottes. Das ist die Herausforderung: Einerseits zu sagen: Die Welt steht in Brand. Und andererseits: Das Reich Gottes ist schon mitten unter uns.

 

DG: Gehört die Sünde überhaupt in die Predigt?

JS: Ja, unbedingt, unverzichtbar. Ich kann gar nicht über Rechtfertigung reden, ohne Sünde zum Thema zu machen, denn Rechtfertigung ist Rechtfertigung des Sünders. Vergebung ist Vergebung von Sünden, Begnadigung ist Begnadigung von Verurteilten. 

 

CH: Bei Jesus und den Aposteln entdecke ich: sie predigen nicht über Sünde. Jesus predigt die Sündenvergebung. Denke wir an Markus 2: Jesus hat dem lahmen Mann keine Sündenpredigt gehalten, sondern einfach Sünden vergeben. Das ist schon erstaunlich. Die Lasterkataloge finden wir dann in anderen Teilen des Neuen Testaments. Und die richten sich an Gemeinden. Aber in der evangelistischen Predigt predige ich nicht über Sünde, sondern von der Sündenvergebung.

 

JS: Das Mensch ist ja ein großer Experte in Selbstentlastung und Selbstrechtfertigung. Er ist von Natur aus ein großer Selbstbetrüger, weil er Dinge nicht so wahrnehmen möchte, wie sie nun mal sind. Wenn ich mir die Bergpredigt anschaue, spricht Jesus sehr konkret über Verfehlungen. Der Evangelist muss den Menschen, der von sich behauptet gut zu sein, anhand der Heiligen Schrift nachweisen, dass er ein Sünder ist. Sonst versteht er nicht, weshalb er Vergebung braucht. Ohne die Konkretion verflacht die evangelistische Verkündigung zur Abstraktion von der Liebe Gottes.

 

CH: Was die Bergpredigt angeht, möchte ich dir widersprechen. Ich sehe darin keine Predigt über Sünden, sondern eine Darlegung, wie die Nachfolger Jesu zu leben haben. Aber Jesus listet keinen Katalog auf. Was er sagt: Eure Gerechtigkeit soll noch etwas mehr sein. Passt auf, dass ihr euch nicht in einer Katalogisierung von Verhaltensweisen verliert. Das Problem mit der Predigt über Sünden ist, dass man so leicht Sünde mit Moral verwechseln kann. Dann leuchtet das Evangelium nicht mehr, es wird gesetzlich.

 

JS: Sünde hat auch mit Moral zu tun.


CH: Ja, aber nur bezogen auf die Tatsünde. Es geht ja darum, dass Menschen getrennt sind von Gott. Und diese Sündenerkenntnis werden sie nicht dadurch bekommen, dass ich ihnen einen Katalog aufliste, was alles schlecht ist in ihrem Leben, sondern dadurch, dass ich ihnen die Liebe Gottes vor Augen male. Und dadurch, dass ich ihnen das Reich Gottes verkündige. Sündenerkenntnis hat es mit Glauben zu tun. Ich komme doch erst zur Sündenerkenntnis, wenn ich die Wirklichkeit Gottes angenommen habe.


JS: In der Bergpredigt spricht Jesus wiederholt vom Gericht Gottes. Das macht nur Sinn, wenn es da etwas zu verurteilen gibt. Es ist ja nicht so, dass die Bergpredigt, so wie du gesagt hast, nur eine allgemeine Verhaltensethik beschreibt, sondern auch ganz markant Verfehlungen benennt. Wenn Jesus zu seinen Zuhörern sagt: „Ihr Heuchler“ und versucht, ihnen durch diese krasse Anrede die Augen zu öffnen, dann merkt man, wie das genau hineinsticht in diese Blase von Selbstbetrug und Selbsttäuschung.


CH: Aber das gegenüber den Frommen. „Ihr Heuchler, ihr getünchten Gräber, …“ das sind die Frommen. Das sind wir in den Gemeinden, die die Sünde innerhalb der frommen Gesellschaft nicht beim Namen nennen. Der Sünderin, die gesteinigt werden soll, sagt er: Ich verurteile dich nicht. Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr. Er musste ihr nicht sagen, was die Sünde ist. Jesus predigt die Sünde nicht, er predigt mehr: Ihr könnt es anders.


JS: Hier steht in der Bergpredigt: Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, und danach sieh zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst. Das passt nicht zu dem, was du gerade gesagt hast. Das jemand nur durch die Begegnung mit Jesus von selbst darauf käme, in welchem Schlamassel er steckt. Die Lebenssituation bedarf der prohetischen Deutung durch den Evangelisten.
Nehmen wir nur zum Beispiel Beispiel Nathan und David. Als David in seiner Selbsttäuschung immer noch nicht begreift, sagt Nathan: „Du bist der Mann.“ Das ist das, was ein Evangelist leisten muss. 


CH: Interessant, dass wir an die Nathangeschichte gekommen sind. Wie spricht denn Jesus? Wenn ich evangelistisch predige, dann versuche ich die frohe Botschaft von der Vergebung der Sünden und der Gerechtigkeit Gottes zu verkündigen. Da gehört natürlich dazu, dass ich vom Reich Gottes spreche. Wie ist das Reich Gottes? Es ist Gerechtigkeit, es ist Shalom, es ist Frieden. Das wir Menschen dazu nicht beitragen, das sage ich natürlich auch. Aber ich fange nicht an und sage: Das und das machen wir falsch, wir müssen uns ändern. Sondern ich sage: Gottes Idee ist eine andere. Sie fängt mit dem Paradies an.


JS: In meiner Verkündigung verstehe ich meine Aufgabe so, die zusammenhängende Darstellung der Elemente des Evangeliums zu bringen. Aber wie gesagt: die Zusammenhänge darstellen und weder die Vergebung noch die Sünde zu isolieren, sondern zu zeigen, wie sich das eine auf das andere bezieht.


CH: Jesus sagt: Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium. D.h. das Reich Gottes ist die große Vokabel, die ich verkündige. Buße hat es mit Sinnesänderung, mit Umdenken zu tun. Wenn ich das Reich Gottes vor Augen habe, weiß ich auch, wohin ich mich ändern muss. Letzte Woche habe an einem evangelistischen Abend nur über das Paradies gesprochen. In einem Gespräch am Tisch sagte mir später eine Frau: „Ich habe ein ganz schlechtes Gewissen.“ Ich frage: „Warum haben Sie ein schlechtes Gewissen?“ Und sie: „Sie haben so vom Paradies und gesprochen und davon, dass Gott es gut meint.“ Und dann erzählte sie mir, warum sie ein schlechtes Gewissen habe. Aber davon hatte ich gar nicht gesprochen. Für unser Gespräch bedeutet das doch: die Verkündigung der Gerechtigkeit des Reiches Gottes führt auch dazu, dass Menschen merken: Ich bin ungerecht. Und das Gewissen in mir regt sich.


DG: Was bedeutet der Satz dass „die Güte Gottes zur Buße leitet“ (Rö 2, 4)?


CH: So versuche ich Menschen für Christus zu gewinnen. Dass ich versuche deutlich zu machen, was für ein wunderbarer Erlöser Jesus ist, der vergibt, der uns befreit.


JS: Der Erlöser Jesus Christus erlöst uns aus Liebe vom Zorn Gottes, über den Paulus in Römer 1,18 schreibt. Ohne diesen Bezug wäre die Predigt verträumt und realitätsfern. Die Pole Himmel und Hölle, Gnade und Gericht, dürfen wir nicht voneinander trennen. Gollwitzer hat gesagt, Evangelium ohne Gericht wäre ein Schlafmittel. Für Paulus ist nach Römer 2,16 das Gericht Teil des Evangeliums. Nur durch den tiefen Ernst dieses Zusammenhangs wird das Evangelium und die überraschende Güte Gottes überhaupt verständlich.  Die zusammenhängende Darstellung der Grundelemente des Evangeliums – das ist die ganze Botschaft. Diese ganze Botschaft gewinnend an Herz und Gewissen zu richten, ist meine Aufgabe.


DG: Wenn ich also bei Carsten Hokema in die evangelistische Verküdigung gehe, dann wird mir das Reich Gottes vor Augen gemalt, wenn ich bei Jörg Swoboda bin, höre ich zunächst, wie ich vor Gott dastehe und bekomme dann einen Weg aufgezeigt, wie ich da rauskomme. Kann man das so zuspitzen?


JS: Ich predige in der Evangelisation nicht speziell über theologischen Systeme, sondern sondern lege Bibeltexte aus. Da kommt da
s eine wie das andere vor. 


CH: Bei mir gibt es ein theologisches System: das Reich Gottes, die Vergebung der Sünden, die Barmherzigkeit Gottes, die aufleuchten soll. Dann greifen ich auch zu Erzähltexten. Aber das mit dem Reich Gottes, das stimmt.


DG: Ihr wart beide beim Dienstbereich Mission angestellt. Hat der Dienstbereich von eurer Unterschiedlichkeit eigentlich profitiert?


JS: Ja. Was ich aus dem Dienstbereich als Erinnerung und als Schatz mitnehme, ist die herzliche Gemeinschaft und die Unerbittlichkeit, mit der wir gegenseitig theologische Postionen in Frage gestellt haben und um Klarheit gerungen haben – bei gleichzeitiger Erhaltung der geistlichen Bruderschaft.


CH: Ich glaube nicht, dass es für den Dienstbereich an sich eine große Bereicherung war. Ich glaube, dass es für unsere Gemeinden eine große Bereicherung war. Es gibt Gemeinden, die theologisch sehr unterschiedlich „ticken“ – und die laden sich natürlich Verkündiger ein, von denen sie meinen, dass sie zu ihrer Theologie passen. Was uns eint: wir möchten, dass Menschen zum Glauben finden. Deswegen geht das mit uns. Wenn das nicht im Blick ist, auch in unseren Gemeinden, dann geht das nicht. Mission hält auch zusammen.


DG: Vielen Dank für das Gespräch.