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Das Murmelexperiment

Eine Weihnachtsgeschichte


Es war an einem der langen kalten Winterabende in der Adventszeit, als ich gegen Mitternacht noch einen Blick hinaus auf die Straße warf. Sie war von Schaufensterbeleuchtungen und den weihnachtlichen Lichterketten hell erleuchtet. Ich genoss den menschenleeren Anblick der tagsüber stets gut bevölkerten Fußgängerzone und freute mich daran, einmal ohne die Stimmen und das hektische Straßengetrappel den Geräuschen der alten Fachwerkhäuser lauschen zu können.

Ich begann darüber nachzudenken, wie viele Generationen wohl bereits in diesen knarrenden, romantischen Häusern gewohnt haben mochten und wie spannend es wäre, wenn all die schiefen Wände um mich herum von den Geschichten dieser Menschen erzählen könnten. Sollte es sogar irgendeinen Zusammenhang zwischen der asymmetrischen Architektur dieser Häuser und den womöglich zweifelhaften Lebenswandel der zahlreichen Vormieter geben...?

 

Gerade als ich mich abwenden wollte, erblickte ich plötzlich eine seltsame Gestalt an dem Brunnen, der ein paar Schritte von unserem Haus entfernt stand. In dieser eisigkalten Winternacht saß offenbar irgend jemand dort am Brunnenrand und rührte sich nicht. Den Anblick Betrunkener war ich an diesem Platz zuweilen gewöhnt, aber das, was ich dort sah, war irgendwie anders. Obwohl kein Nebel war, konnte ich die Gestalt nur schemenhaft erkennen – noch dazu hatte ich den Eindruck, sie würde ein bisschen leuchten. Es schien mir alles äußerst merkwürdig.


Einen Moment lang zögerte ich, doch dann packte ich meinen alten Trenchcoat und lief die Treppe hinunter auf die Straßezum Brunnen. Es war menschenleer bis auf die Gestalt am Brunnen, die mir ihr Gesicht zuwandte. Auch als ich genau vor ihr stand, ko0nnte ich sie nicht deutlich erkennen. Es war eine menschliche Gestalt, das Gesicht war mir sehr vertraut, ich spürte, dass ich es vor ganz langer Zeit einmal gesehen hatte.


Mit einem sympathischen Lächeln fragte mich mein Gegenüber, ob ich Angst hätte. Ich überlegte einen Moment und verneinte schließlich die Frage.


„Gute“, sagte die Gestalt „ das macht alles viel einfacher.“ Ich schaute etwas fragend und hättenun doch gerne gewusst, wer um alles in der Welt mir gegenüber am Brunnen saß. Schon hörte ich die Antwort: „Du möchtest wissen, wer ich bin? Nun dein Gedanke von vorhin, ich wäre dir bereits bekannt, war schon richtig.“ Gedanken lesen konnte dieses Wesen also auch. Ich wurde ungeduldig.

„Nenn mich wie du willst. Wesen wie ich eines bin, werden von euch Menschen im Allgemeinen als Engel, Schutzengel, Spielgefährten der Kinder, unsichtbare Begleiter usw. bezeichnet. Der Begriff spielt eigentlich keine Rolle.“

Irgendwie hatte ich diese Antwort erwartet. Sie erstaunte mich nicht unbedingt. Einen Moment lang versuchte ich in meinen Kindheitserinnerungen nach einer dieser seltsamen tagtraumartigen Begegnungen zu forschen, die mich als Kind so oft aus dem Alltagsgeschehen gerissen hatten. Aber ich konnte sie nicht erreichen. Anstelle dessen dachte ich an einen Ausspruch meiner Urgroßmutter, die wohl angesichts der sogenannten „Spielgefährten“ kleiner Kinder gesagt haben soll: „ Mit sieben Jahren fallen ihnen dann endgültig die Engelsflügel ab...!“ Ich hatte sie niemals kennen gelernt, aber sie war der ganzen Angelegenheit wohl ziemlich nahe gekommen. Kleine Kinder faszinierten mich nicht zuletzt deshalb, weil ich in ihrer Gegenwart oft das Gefühl hatte, sie wären noch nicht vollständig „losgelassen“ und hätten gut funktionierende Kontakte zu anderen Sphären.

Aber zurück zu diesem Engel hier am Brunnenrand. Ich trat wegen der Kälte von einem Fuß auf den anderen und fragte ihn, was er überhaupt vorhabe.

Daraufhin stand er auf, sagte, wir könnten doch in meine Wohnung gehen und erklärte mir, er wäre mit einem Sonderauftrag unterwegs. Also gingen wir gemeinsam ins Haus und die knarrende Treppe hinauf, die nur unter meinen Füßen knarrte...


Wir setzten uns im Schein der noch brennenden Kerzen an den wärmenden Kohleofen. Dabei beobachtete ich aufmerksam meinen Begleiter, der lächelnd die Engigkeit der Räume betrachtete und sich behaglich in einem Sessel ausstreckte. Der Engel begann zu erzählen:


„Wir Engel machen uns ziemliche Sorgen um euch Menschen. Das Verhalten vieler vor diesem Weihnachtsfest rechtfertigt unsere Sorgen nur zu deutlich. Sag doch selbst, wie oft hast du in der Adventszeit gesehen oder gehört, dass Kinder vor deinem Haus von ihren gehetzten Eltern ohne besonderen Grund ungeduldig angeschrieen oder sogar geohrfeigt wurden?“


Ich nickte beifällig. Das Gezeter unter meinem Fenster war mir allerdings nicht entgangen. So manches Mal hatte ich in Gedanken mit einer der Tomaten aus der Küche als Wurfgeschoss geliebäugelt...

 

„Mir läuft ein kalter Schauer den Rücken herunter, wenn ich nur all die falschen Weihnachtsmänner denke, die in den Geschäften Tag für Tag versuchen, den Kindern voller Ahnungslosigkeit und mit subtilen Tricks ein schlechtes Gewissen einzureden -anstelle ihnen Weisheit, Milde und Güte wenigstens vorzuspielen.“, fuhr der Engel fort. „Wir machen uns ernsthafte Gedanken, viele Menschen machen einen solchen Aufstand um die Weihnachtsgeschenke, das bombastische Essen und den möglichst hässlich geschmückten Weihnachtsbaum, dass ihnen letztendlich kein Raum in ihrem Herzen bleibt, um das Wesentliche in diesem Fest zu erkennen.


Noch dazu wird es in jedem Jahr schlimmer. Mit dem zunehmenden Irrglauben der Erwachsenen, schrumpfen auch unsere Möglichkeiten, wenigstens die Kinder zu erreichen. Sie reagieren inzwischen häufig nur noch auf „groß“, „grell“ und „elektronisch piepsend“!


Glaub mir, das Engeldasein ist echt hart. Wir haben uns schon überlegt, ob wir in diesem Jahr zur Abwechslung die Bescherungen im Batman-Kostüm durchführen sollten, um womöglich mit dem Schlachtruf „Wir sind die Rächer der Entrechteten!“ um den Weihnachtsbaum zu kreisen.


Ich konnte mir bei der Vorstellung dieser bizarren Szene ein Lachen nicht verkneifen. Außerdem gefiel mir die direkte Art des Engels.

„Du hast gut lachen“, sagte er und schmunzelte dabei vor sich hin, „ aber einen Ausweg aus dem Dilemma weißt du bestimmt auch nicht. Wie finden wir bloß einen Zugang zu den verblendeten Kinderaugen, ihren Herzen und denen ihrer Eltern?“


Er schaute mich fragend an.

„Ich kann dir nicht die einzig gültige Superlösung präsentieren“, antwortete ich ihm achselzuckend. Dabei dachte ich an die vielen Menschen, für die Weihnachten alles andere als „Frieden, Vertrauen, Gemeinschaft“ war. Die Einsamen, Verzweifelten, Trauernden, an alle, die sich lieber verkrochen, als diesen Tag zu feiern.

„An eurer Stelle würde ich einen Versuch machen. Änderungen könnt ihr sicherlich nur in kleinem Rahmen erreichen, aber das wäre es bereits wert. Schenkt den Menschen etwas ungewöhnliches Kleines, Faszinierendes. – Nur was?“


Der Engel schaute nachdenklich in die Kerzenflamme, dann streifte sein Blick den Tisch. Plötzlich hielt er inne. „Ich glaube, ich habe eine Idee.“ Dabei nahm er eine der Murmeln in die Hand, die vor ihm auf dem Tisch lagen.


„Wir schenken den Menschen dieses Jahr wunderbar glänzende Murmeln. Wir legen sie einfach ins Weihnachtszimmer und keiner weiß, woher sie kommen. Geht es dir nicht auch so, dass du immer Neues an ihnen finden kannst? Glitzern, Funkeln und Leuchten – immer anders bei unterschiedlichem Licht?“

Ich nickte beifällig.

 

„Meinst du sie fallen im Weihnachtszimmer genug auf?“

„Möglicherweise hast du Recht.“ Der Engel überlegte einen Moment. „Wir können die Murmeln auch am Morgen des 24. Dezembers in die Betten auf die Kopfkissen legen. Sie finden sie bereits beim Aufwachen, wundern sich und fragen sich gegenseitig, woher die Murmeln stammen. Vielleicht lassen sie sich darauf ein, ein bisschen überrascht zu sein und darüber nachzudenken...“


„Versuch es einfach“, sagte ich „ wenn nur ein paar Kinder oder Erwachsene darauf reagieren, habt ihr bereits gewonnen.“

Der Engel schien ganz zufrieden mit seiner Idee. Er saß noch ein paar Minuten da und verabschiedete sich dann. Bei seinem Gehen hörte ich weder das übliche Knarren der altersschwachen Treppe noch das Stolpern über die ewig im Hausflur abgestellten Kartons. Ich denke nicht, dass er daran glaubte, mit der Murmel-Aktion die vielen bedauerlichen Ereignisse um uns herum zu stoppen. Es ging ihm wohl mehr um ein Zeichen der Hoffnung, um den Glauben an die Fähigkeit der Menschen, sich auf Grundsätzliches zu besinnen. Mehr konnte er auch nicht tun, denn die Entscheidung, Konsequenzen aus irgendwelchen Entwicklungen zu ziehen, lag nach wie vor bei uns Menschen.

 

Ich habe ihnnicht wieder gesehen. Ich weiß nicht, ob die Murmeln ihren Dienst erfüllt haben oder ob sie ihn jemals erfüllen werden, doch gerne schließe ich mich seinem „Murmel-Experiment“ zur Weihnachtszeit an und versuche es einfach mal....