Radioandachten Oktober 2015
Montag, 12.Oktober: Bei euch!
Dienstag, 13.Oktober: Am Anfang.
Mittwoch, 14.Oktober: Alles gut!
Donnerstag, 15.Oktober: Grün.
Freitag, 16.Oktober: Obstberg.
Samstag, 17.Oktober: Handysonntag
Montag, 12.Oktober: Bei euch!
Dienstag, 13.Oktober: Am Anfang.
Mittwoch, 14.Oktober: Alles gut!
Donnerstag, 15.Oktober: Grün.
Freitag, 16.Oktober: Obstberg.
Samstag, 17.Oktober: Handysonntag
„Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun. Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht. “ So kenne ich es, das dritte der 10 Gebote.
Mit Ruhe ist bei mir aber wenig. Es piept und blinkt, klingelt und bingelt eigentlich ständig, mein Handy. Wenn es sich selbst nicht rührt, dann rühre ich mich: Meine Finger fliegen flink über das Display. Ich schaue nach, ob neue Mails gekommen sind, schreibe eben noch eine whats app oder schaue schon mal, wie das Wetter am Wochenende so wird.
Vor 14 Tagen blieb das Display meines Smartphones dunkel. Und ich sah schwarz. 7 Tage lang musste ich ersatzweise ein uraltes Handy nutzen. Damit konnte ich nur telefonieren.
In dieser Woche habe ich gemerkt, wie gut es tut, - wenn auch unfreiwillig - einmal „abzuschalten“. Ich war, nachdem ich mir zunächst uninformiert, nackt, unwichtig und von der Welt der Informationen abgeschnitten fühlte, tatsächlich ruhiger und entspannter.
Ich habe gemerkt, dass mein Alltag konzentrierter wurde: Ich war mehr bei den Sachen, die ich machte und auch mehr bei den Menschen, denen ich begegnete.
Jetzt habe ich mein Handy wieder. Meine Einstellung zu diesem Wunderwerk der Technik hat sich geändert. Und ich habe die Einstellungen geändert: Es piept und blinkt, pingelt und bingelt viel seltener.
Das 3.Gebot für Handybesitzer könnte heissen: „Sechs Tage kann es klingeln und bingeln. Der siebte Tag ist eine Ruhetag, dem Herrn geweiht.“
Morgen lasse ich das Handy ganz aus. Ich gehe zum Gottesdienst.
Dann bin ich mehr bei mir selbst. Und bei den Menschen, denen ich begegne.
Vor ein paar Wochen kam ich fünf Tagen endlich wieder in meine heimatlichen vier Wände zurück. „Hallo, ist jemand zuhause?“ Enttäuscht war ich schon, dass niemand auf mich wartete.
Na ja, ein Kind ist schon ausgezogen, die anderen sind vermutlich in der Schule und meine Frau arbeitet ja auch. Aber Salman könnte da sein.
Ich suchte ihn, ging in die Küche und mein Blick fiel auf einen fein säuberlich aufgetürmten Obstberg, an dem ein Zettel angebracht war: „Hallo, ich habe für euch Obst gekauft, ihr könnt das gerne essen.“
Ich lächelte, war gerührt und biß herzhaft in einen Apfel.
Dann schrieb ich eine Whats App an alle Familienmitglieder.
Salman antwortet zuerst.
Mittlerweile wohnt Salman, er kommt aus Afghanistan, seit einem halben Jahr bei uns. Den Obstberg hat er uns mitten im Fastenmonat Ramadan geschenkt. Er selbst hat – zumindest tagsüber – nichts davon angerührt. Seit seinem 18.Geburtstag wohnt er im freigewordenen Zimmer unserer ältesten Tochter.
Er beschenkt uns von seiner weniger Sozialhilfe nicht nur mit Obst. Sein selbstgekochtes Essen (das für uns manchmal noch immer gewöhnungsbedürftig ist) teilt er ebenso gerne. Und unbezahlbar sind sein Humor, seine Ehrlichkeit und seine Bemerkungen zu unserem Deutschsein. Und zu unserem Christsein.
Wir haben es natürlich nicht nur einfach mit ihm. Und er nicht mit uns. Wie in einer ganz normalen Familie eben.
„Darf ich das im Radio erzählen, dass ich mich über dein Ramadanobst gefreut habe?“
„Aber klar, wir sind doch alle Menschen, oder nicht?“
Auf dem Kirchentag, der im Juni in Stuttgart, stattfand, traf ich Christina Brudereck aus Essen. Sie hat mich schon manches Mal mit ihren Gedanken bereichert. Sie hat ein Gedicht über die Schöpfung geschrieben. Eine Strophe hat es mir besonders angetan. Für mich wird darin so schön deutlich, dass Gott ein kreativer, vielfältiger und ideenreicher Schöpfer ist:
„Wie am dritten Tag der Schöpfung das Grün aufging!
Olivgrün, türkisgrün, lindgrün,
gras- und waldgrün, smaragdgrün, neongrün,
flaschengrün, goldgrün und kiwigrün.
Und es wuchsen kleine Halme, starke Bäume, Blumen.
Dafür erfand Gott eine ganze Palette Farben:
Rot, gelb, orange, apricot, beige, lila, rosa, blau, türkis, braun, grau, gold, silber, und .... blond.“
Aber nicht nur vielfältigen Farben für das bunte Leben hat Gott erschaffen.
Auch die Möglichkeiten des Lebens: An einem anderen Tag
„machte Gott Fische und Vögel
und wie man in seinem Element ist.
Abtauchen, mitschwärmen, in die Tiefe gehen, aufsteigen
fliegen, federleicht sein,
den Himmel anhimmeln
getragen werden
Wind und Wellen
Wasserfälle, Wogen,
Wolken, Blitz und ..... Donnerstag.“
Der Schöpfungsbericht der Bibel fasziniert mich. Es gibt darin so viele schöne Dinge zu entdecken. Nicht nur das Schöne, das erschaffen wurde und das beschrieben wird.
In den ersten Kapiteln der Bibel finde ich auch grundlegende Aussagen über Gott und Menschen, die von weiser Lebenserfahrung und auch von der tiefen Religiosität ganzer Generationen geprägt sind.
Beim Lesen der Schöpfungsgeschichte fällt auf, dass nach jedem Schöpfungstag geradezu stereotyp der Satz zu lesen ist:
„Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte und siehe es war gut!“
Gott wird hier wie ein Mensch beschrieben, der am Ende eines Arbeitstages auf sein Werk schaut. Und offensichtlich ist es den biblischen Autoren wichtig zu sagen, dass Gott sein Werk „gut“ findet, dass er zufrieden ist, dass alles soweit in Ordnung ist.
Gut, gut, gut, gut, gut! Fünf mal ist dieses Urteil geradezu wie ein Selbstgespräch Gottes zu hören. Am sechsten Tag dann, nachdem auch noch der Mensch das Antlitz der Erde erblickt hat, bekommt die ganze Schöpfung die Note „Sehr gut!“. 15 Punkte. Summa cum laude!
Besser geht es nicht!
Das macht die Bibel gleich zu Beginn deutlich: Gott schafft Gutes!
Ja, sehr Gutes! Das Prädikat „gut“ gehört sozusagen von Anfang an unauflöslich zu Gott.
Der heutige Tag wird viel Gutes bringen.
Ich nehme es dankbar aus Gottes Hand.
Der erste Satz der Bibel gehört irgendwie zur Allgemeinbildung.
Nicht offiziell, aber doch kennen viele Leute diesen Satz auswendig:
„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde!“
Schon beim zweiten Satz der Bibel komme ich allerdings inhaltlich ins Stutzen, stottere etwas. „... und die Erde war wüst und leer!“.
Ja, was hat Gott sich denn dabei gedacht? Allem Anschein nach hat er ein „unfertiges Produkt“ erfunden. Oder haben die Verfasser der biblischen Schöpfungsgeschichte schon geahnt, dass bei der Entstehung der Erde eine Entwicklung stattfinden musste?
„Wüst und leer“, so haben sich die Bibelschreiber die Welt zu Beginn gedacht. Und sie haben dafür in ihrer Sprache ein Wort verwendet,
mit dem ich noch heute meinen Schreibtisch bezeichne: „Tohuwabohu“. Die Erde war ein Tohuwabohu! Ein Durcheinander! Also eigentlich nicht „wüst und leer“, sondern eher „wüst und voll durcheinander“.
Der Schöpfungsbericht beschreibt dann im Anschluss detailreich und auch ganz menschlich, wie Gott Schritt für Schritt aufräumt, Ordnung ins Chaos bringt, wie alles so entsteht, dasteht, seinen Platz findet, dass der Mensch einen wunderbaren Lebensraum zur Verfügung hat.
Das ist so etwas wie ein Charakterzug Gottes: Gott beseitigt das Tohuwawohu und sorgt dafür, dass sich das Leben entfalten kann.
Heute ist Dienstag. Das Leben kann sich entfalten. Gott sei Dank.
Am vergangenen Wochenende war ich auf einem Drachenfest in Mecklenburg-Vorpommern zu Gast. Viele Kinder haben gemeinsam mit ihren Eltern Drachen steigen lassen und bei besten Wind- und Wetterverhältnissen für einen farbenfrohen Himmel gesorgt.
Der Drachen eines kirchlichen Projektes, den ich dabei hatte, ist ziemlich groß: Er hat 96 Quadratmeter Fläche und mehr als 200 Quadratmeter Drachenstoff wurden verarbeitet. Mindestens drei Personen braucht man, um ihn steigen zu lassen Das Seil, an dem der Drachen in die Wolken steigt kann mit 2000 Kilogramm belastet werden und wird von einem Auto gehalten.
Es war schon ein herrlicher Anblick, als der große Drachen endlich ruhig im Wind stand. Auf dem Drachen ist auf blauem Untergrund eine Weltkarte zu sehen. Die Kontinente eben so bunt und farbenfroh wie die kleineren Drachen, die neben dem Riesendrachen flogen.
Quer über die Weltkarte steht in großen Buchstaben zu lesen:
„Mit dem Himmel verbunden!“.
Wer einmal einen Drachen hat steigen lassen, der weiß, dass man sich dabei wie mit dem Himmel verbunden fühlen kann.
Die Mitarbeiter des kirchlichen Projektes, die den Riesendrachen in mühevoller Kleinarbeit genäht haben, wollen mit der Weltkarte und dem kurzen Satz zum Ausdruck bringen:
Wir glauben, dass die Welt mit dem Himmel verbunden ist,
dass Gott seine Welt im Blick hat.
Oder um es mit den Worten Jesu zu sagen, die der Evangelist Matthäus überliefert hat:
„Jesus spricht: Siehe ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt!“
Ganz unverhofft und abseits aller ökumenischen Bemühungen, die dafür sorgen, dass Kirchenvertreter unterschiedlicher Konfessionen sich auf Konferenzen, Symposien oder bei irgendwelchen wichtigen Kirchenereignissen treffen, traf ich meinen „Bruder im Herrn“ in einem kleinen niederländischen Dorf in der Nähe von Hindeloopen am Ijsselmeer.
Sinnigerweise hieß das Dorf auch noch „Himmelum“. Eine Fahrradtour hatte meine Frau und mich sowie zwei Freunde an einem herrlich sonnigen Frühjahrstag in das kleine Dorf geführt. Ein „typisch holländisches“ Dorf. Schnuckelige kleine Häuser, offene Fenster und dazu noch jede Menge niederländischer Spirit in der Vorgarten- und Gartengestaltung.
Eine sehr kleine Kirche ließ uns kurz langsamer radeln. „Uuuups, das ist gar keine Kirche, das ist ein Kloster!“ Eben anhalten und genauer untersuchen. Just in diesem Moment kam der griechisch aussehende Holländer in vollem Mönchsornat um die Ecke und bot uns eine kleine Führung an. Ein paar Minuten später standen wir, umgeben von einem guten Dutzend Ikonen, deren Herkunftsorte wir im Laufe des sich anschließenden Gesprächs erfahren sollten, in der kleinen Kirche.
Der Mönch war eine sympathische Erscheinung. Er strahlte Ruhe aus. Er erzählte aus seinem Leben und wie es dazu gekommen war, dass in einem Dorf knapp vorm Bretterzaun der Welt ein kleines griechisch-orthodoxes Kloster entstanden war. Nachdem der Mönch dem Katholizismus den Rücken gekehrt hatte, war er viele Jahre lang in Polen in einem orthodoxen Kloster tätig. Eigentlich wollte er 1998 nur kurz nach Holland zurück, um seine Papiere für einen Daueraufenthalt in Polen zusammen zu suchen. Es kam aber anders. Er wurde, gemeinsam mit einem orthodoxen Priester, auf die kleine reformierte Kirche in Himmelum, deren Pastorin mit einem orthodoxen Christen verheiratet und kurz vor ihrem Ruhestand war, aufmerksam. 1999 wurde das Kloster eröffnet. Zwei Mal in der Woche werden Gottesdienste gefeiert. Ein paar versprengte orthodoxe Christen kommen dann zusammen.
Wir fragten den Mönch Löcher in den Bauch. Und er befragte uns nach unserem Glauben. Es ergab sich ein längeres Gespräch, in dem wir auch auf das Thema „Mission“ zu sprechen kamen.
„So etwas machen wir nicht. Wir leben unseren Glauben im Alltag. Dann ist Gott gegenwärtig und der Heilige Geist sorgt dafür, dass Menschen zum Glauben kommen.“ Und, demütig in Körperhaltung, Ton und Ausdruck fügte er hinzu: „Dass ihr zu den Menschen hingeht, das ist gut. Manche Menschen haben ja keine Christen in der Nähe. Wir sind jedoch bei den Menschen.“
Ein Lächeln legte sich auf mein Gesicht. Welch für ein bescheidener, demütiger und zugleich hingebungsvoller Christ!
Die Postkarte der Ikone vom Heiligen Nicolaas, die er mir zum Abschied geschenkt hat, zeigt den Heiligen mit einem aufgeschlagenen Buch. Zu lesen sind die Zeilen „Ich bin der gute Hirte. Ich kenne die Meinen und die Meinen hören meine Stimme!“ Zufälligerweise hatte ich ein kleines Windspielschaf von ewigkite.de mit dabei. Das habe ich ihm geschenkt. Und ich habe ihm versichert, dass die schwarze Farbe des Schafes wirklich nichts, aber auch rein gar nichts mit ihm zu tun hätte. Er hat sich gefreut. Ich nehme nicht an, dass das Schaf es in den Status einer Ikone schafft, aber sicher weht es irgendwo ganz unorthodox auf orthodoxem Grund und Boden.
Zuhause angekommen lese ich das auf Niederländisch verfasste Infoheftchen. Auch wenn die Übersetzung sicher schlecht ist, so viel habe ich verstanden ... „Orthodoxe Christen glauben, dass der Mensch nach Gottes Bild geschaffen ist (=Ikone; 1.Mose 1,26). Jedoch ist die Einheit mit Gott durch die Sünde verloren gegangen, „met de dood als gevolg.“ Durch die Menschwerdung Christi und dessen Tod und Auferstehung ist der Mensch befreit aus der Macht des Todes. Die Wiederherstellung der Gemeinschaft mit Gott und die Teilhabe an der Herrlichkeit Gottes ist dadurch wieder möglich geworden.“
Ganz schön missionarisch, denke ich mir.
Die Begegnung mit dem Mönch hat mich beeindruckt. Ich denke hin und wieder an ihn. Und ich freue mich, dass das ökumenische Miteinander in der alltäglichen Begegnung so gut gelingen kann. Und gelernt habe ich von meinem orthodoxen Bruder: Einfach da sein. Dort, wo die Menschen sind. Gott ist auch (schon) da.
Ich kannte den Verstorbenen nicht persönlich ... .
Zumindest nicht näher. Vielleicht habe ich einmal kurz am Strand von Pelzerhaken mit ihm gesprochen. Denn manchmal quatschen und fachsimpeln wir Kiter mit Gleichgesinnten einfach so am Strand.
Mit 52 Jahren ist in der vergangenen Woche ein Kitesurfer gestorben, nachdem er auf der Ostsee vor Pelzerhaken verunglückt war.
Ich bin mit meinen 50 Jahren fast genau in seinem Alter ... .
Seit vergangenem Donnerstag gehen meine Gedanken regelmäßig an seine Familie, seine Freunde, seine engsten Mitmenschen. Der liebste Mensch, einer der liebsten Menschen, ein Vertrauter, einer, der einfach dazu gehört, wurde nicht nur aus seinem eigenen Leben gerissen. Er wurde auch aus ihrem Leben gerissen.
Mir ging die Pressemitteilung sehr nah. Weil mir die Umstände so nah sind: Das Alter, die Leidenschaft fürs Kitesurfen und auch in Pelzerhaken war ich wohl schon mehr als ein Dutzend Mal auf dem Wasser.
Gestern und vorgestern habe ich versucht zu recherchieren, was genau der Grund für den Unfall war. Es ist nichts herauszufinden. Und, meine Güte, es ist doch auch egal! Es bringt ihn nicht zurück!
Wenn, dann könnte es höchstens mir einen weiteren Hinweis darauf geben, wie ich mein Leben besser schützen kann. Aber das ist nicht das Thema! Das ist nicht das Thema der Trauernden von Pelzerhaken.
Zu wissen, was schief gegangen ist, trocknet nicht die Tränen der Trauernden, bringt den geliebten Menschen, womöglich den Ehemann und Vater, nicht zurück.
Das Leid, die Trauer, die Schmerzen werden nicht gelindert durch sachliche Detailfragen zu Fragen der Kite-Sicherheit. Wenn überhaupt, dann werden sie gelindert, getragen, getröstet durch die Liebe anderer Menschen. Immer wissend und empfindend: Die Liebe des einen verstorbenen Menschen fehlt schmerzlich.
Meine Gedanken und auch meine Gebete gehen zu den Angehörigen. Ich weiß nicht, wer sie sind, aber ich hoffe und bete, dass sie Menschen um sich haben, die ihnen treu zur Seite stehen, die ihre Tränen trocknen und sie dann im erneuten Weinen nicht allein lassen, die den nagenden Fragen nach Leben und Sinn, nach dem Warum und der Zukunft nicht ausweichen, sondern tastend nach Antworten ringen und auch offen bleibende Fragen mittragen.
Und: Machen wir als Kitesurfer dem Verstorbenen keine „Vorwürfe“. Wir wissen nicht – zumindest ist es nicht öffentlich – woran es lag. Und selbst wenn wir es wüssten, ja meinen wir denn, dass der Kite-Kollege absichtlich ins Unglück gekitet ist? Jeder Kiter will doch noch seine nächste Session erleben. Jeder Kiter hat doch so große Freude am Sport, dass er auf sich aufpasst, dass er zwar vielleicht an die Grenze geht, aber doch nicht an die Grenze zwischen Leben und Tod! Wem ein „selber Schuld“ in die Gedanken oder über die Lippen kommt, der oder die mache sich bewusst, was er oder sie damit sagt und dem Kite-Kollegen insgeheim unterstellt.
Und bewahren wir uns vor dem Gedanken, dass uns so etwas nicht passieren könnte.
Mir kann so etwas passieren. Ich beachte alle mir bekannten Sicherheitsregeln, ich habe ein Messer im Trapez, trage immer eine Prallschutzweste und einen Helm, habe ein Rescue-Package dabei und meine Kites haben ein hervorragendes Sicherheitssysstem.
Gegen Leinen um den Hals, Kiteboard an den Hals, Wasserschwall in den Hals mit anschließendem Verschlucken, Husten, Luftwegbleiben etc. oder gegen einen Schwächeanfall, Herzinfarkt, Krampf oder sonst was Lebenslähmendes auf dem Wasser kann ich keine Versicherung abschließen. Wie gesagt, ich tue mein Bestes, um Unglücke zu vermeiden.
Aber ich weiß auch, dass ich nicht der Erhalter meines Lebens bin.
Und das betrifft doch nicht nur meinen Sport. Eine Garantie fürs Überleben habe ich nicht.
Mir zumindest ist klar – und das hat nicht nur mit meinem 50.Geburtstag, den ich vor einem halben Jahr gefeiert habe zu tun - , dass ich nicht ewig leben werde. Und vielleicht betrifft mich die Nachricht von der Ostsee auch deswegen so sehr, weil mich dieses Wissen eben nicht unberührt lässt.
Natürlich würde ich mich sehr freuen, wenn es mir so ginge, wie der rüstigen Rentnergruppe, alle offensichtlich um die 70 Jahre oder auch älter, die ich im vergangen Jahr am Strand von Pelzerhaken getroffen habe: Da saßen die drahtigen und rüstigen Rentner in ihren Neoprenanzügen, machten ein Päuschen und meinten dann: „So, junger Mann, jetzt machen wir wieder unsere Kites fertig und drehen ein paar Runden auf dem Wasser!“
Ja, Kitesurfen ist der Traum! Und manches Andere im Leben auch. Das Leben ist so schön!
In diesen Tagen denke ich auch an ein Wort aus der Mitte der Bibel. In Psalm 90 steht: „Herr, lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden.“ Soweit ich weiß ist im sogenannten „Alten Testament“ mit Klugsein so etwas wie „Lebensweisheit“, die dafür sorgt, dass man das Leben sinnvoll und erfüllt lebt, gemeint.
Und was ist der Sinn des Lebens? Wie lebe ich „erfüllt“? Für mich persönlich habe ich eine Antwort auf diese Frage gefunden, auch wenn damit noch lange nicht alle Fragen beantwortet sind. Und ja, meine Antwort ist brüchig. Ich formuliere sie zaghaft und tastend.
Und manchmal – so wie jetzt – voller Trauer über brutale Umstände des Lebens.
Rest in peace, Kite-Kollege!
Bei einem Spaziergang durch Hamburg blieb vor einiger Zeit mein Blick an einer kleinen Informationstafel eines asiatischen Restaurants hängen: „Wir geben jeden Tag gebratenen Reis mit Hühnerfleisch an Obdachlose. Bitte bedienen sie sich!“ In kleiner Schrift stand darunter: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln!“.
Drei Wochen später saß ich mit Herrn Shin-Won Kang in einem Cafe in Hamburg. Ich hatte Kontakt zu ihm aufgenommen, um zu erfahren, was sich hinter diesem Schild verbirgt. Ich lernte einen ruhigen, liebenswerten und offenen Mitchristen kennen, der ebenso wie ich 1964 geboren wurde, dessen Lebensgeschichte aber so ganz anders verlief als meine eigene.
Shin-Won ist in Südkoreas Hauptstadt Seoul aufgewachsen. Als Kind erlebte er Armut und Hunger und saß mit 100 anderen Kindern in einer Schulklasse. Wie für viele Südkoreaner war Bildung auch das höchste Gut, das Shin-Won’s Mutter ihren Kindern zukommen lassen wollte.
„Bildung ist uns wichtiger als Geld!“ sagt er mir. Die Bildungschancen für arme Kinder waren in den 60iger- und 70iger Jahren in Südkorea jedoch dermaßen schlecht, dass die Mutter nur einen Ausweg für sich und ihre Kinder wusste: Ende der 70iger Jahre wanderte sie mit ihren Kindern nach Deutschland aus.
In Hamburg angekommen, schickte die Mutter ihre Kinder auf eine katholische Schule. Shin-Won tat sich etwas schwer mit der Schule. Eine Nonne kümmerte sich in ihrer Freizeit um ihn, gab ihm Nachhilfe und sorgte dafür, dass auch er einen Schulabschluss erhielt. „Manchmal
übernachtete ich dann auch bei dieser Nonne und bekam mit, wie sie morgens um halb fünf aufstand, in der Bibel las, betete und dann Brote für die Obdachlosen auf der Reeperbahn schmierte. Das hat mich sehr beeindruckt.“ Als die Nonne ihren Zögling zum Studium der Umwelttechnik nach Berlin verabschiedete, gab sie ihm einen Bibelvers mit auf den Weg: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln!“
Im Laufe seines weiteren Lebens wurde dieser bekannte Bibelvers zum Lieblingsspruch Shin-Wons: „Ich habe gerade mal so von Bafög gelebt. Der Spruch hat mich auch durch das Studium begleitet. Wenn man diesen Spruch in einer schweren Situation liest, dann muss man weinen. Als Koreaner weint man aber nicht. Dieser Vers hat mich immer getröstet!“
In der Berliner Unimensa kam eines Tages ein ihm unbekannter südkoreanischer Mitstudent bescheiden auf ihn zu, gab ihm eine Bibel und bat ihn darum, diese zu lesen.
„Das hat mich als Südkoreaner sehr beeindruckt. Unsere Kultur lehrt uns Bescheidenheit. Auch in religiösen Dingen sind wir nicht so direkt, eher ‚blumig’. Klugen Menschen, die einem bescheiden und höflich begegnen, kann man einfach keine Bitte ausschlagen“, so Shin-Won, der anschließend zur Bibel griff und dann für sich feststellte: „Jesus nicht irgend eine Geschichte ist, sondern die Liebe!“
Shin-Won war als Kind katholisch getauft worden, „aber das Herz war nicht dabei. Ohne diese Begegnung wäre es mit dem Glauben bei mir nichts geworden!“.
„Bald schon stellte ich fest,“ erzählt mir der heute 50ig-Jährige mit einem Schmunzeln, „dass überall dort, wo Chinesen sind, Chinarestaurants entstehen und dass überall dort, wo Koreaner sind, christliche Gemeinden entstehen!“
1994 wollte Shin-Won in Berlin promovieren. Die familiären Entwicklungen sorgten jedoch für einen anderen Lebensweg. Seine geschäftstüchtige Mutter hatte im Hamburger Schanzenviertel erfolgreich drei Restaurants aufgebaut und betrieben. Als seine Mutter starb, übernahm er die Geschäftsführung der Restaurants, modernisierte sie und baute das Geschäft aus. Heute betreibt Shin-Won im Hamburger Stadtgebiet fünf Filialen und einen Lieferservice. Er wirbt mit dem Slogan: Einfach. Gesund. Anders.
Als Mitglied der koreanischen Gemeinde, die sich bis vor einigen Jahren in einer Baptistengemeinde in Hamburg traf und jetzt am Hamburger Hafen beheimatet ist, engagiert er sich in besonderer Weise für missionarische Anliegen: „Wir machen das auf unsere südkoreanische Weise und so, wie ich es von der Nonnen gelernt habe. Nicht mit starken Worten oder aufdringlichen Taten. Eher der Kultur der Chinesen, Japaner und eben Koreaner entsprechend mit Zurückhaltung. Die Liebe ist sanfter als der Drang zu missionieren .“
Unkonkret bleibt der sympathische Mann deswegen nicht. Als Missionsleiter der 150 Mitglieder zählenden Gemeinde, die sich überwiegend aus koreanischen Geschäftsleuten und Studenten zusammen setzt, sorgt er für Projekte in der Türkei, Bulgarien und Kenia.
Natürlich wollte ich auch wissen, wie er auf die Idee mit der Obdachlosenspeisung gekommen ist.
„Das ist im besten Sinne auch ein Resultat meiner Herkunft. Der Konfuzianismus hat mich gelehrt, dass Teilen einfach zum Leben gehört.
Das ist nichts Besonderes, gemeinsam am Tisch zu sitzen, zu essen und zu teilen. Heute ist das für viele Koreaner leider auch nicht mehr selbstverständlich. Wir sind so rational geworden, das Emotionale hat abgenommen, klug und schlau sein steht im Vordergrund und das Einfache, ich sage einmal ‚Bäuerliche’ hat abgenommen.“
Shin-Won erzählte mir längere Zeit aus seinem Leben. Seine drei Kinder haben alle Abitur gemacht, es geht im familiär und wirtschaftlich gut. Da konnte er, so schilderte er mir, seine Dankbarkeit einfach nicht unterdrücken.
„Ich habe Reis, ich habe Hühnerfleisch und ich habe Köche. Da lag es einfach nahe, Essen auszugeben. Blumen verschenken wäre bei meinen Geschäften unpassend gewesen!“, erzählt der Geschäftsmann mit strahlenden Augen. 2010 begann er mit der kostenlosen Essensausgabe probeweise für einen Monat. Heute werden in seinen Filialen um die 100 Essen täglich verteilt. Er hat Freundschaften mit Obdachlosen geschlossen und „auch bei meinen Angestellten hat es nach einem Lernprozess irgendwann ‚klick’ gemacht, so dass sie nicht nur die zusätzliche Arbeit sehen! Solange du in der Lage bist zu geben, sei froh! Das Geben tut auch meiner Seele gut, ich profitiere am meisten davon!“
Ich habe viel gelernt von Shin-Won. Und er hat mich nachhaltig beeindruckt. Jedes Mal, wenn ich an einem asiatischen Imbiss vorbeilaufe, denke ich an ihn. Und an Psalm 23. Und daran, dass die Liebe sanfter ist als der Drang zu missionieren.